Montag, 20. April 2009

Soziale Netzwerke: Gesundheitsprophylaxe

Wir sind eben doch Rudeltiere und werden krank, wenn man uns isoliert: http://images.zeit.de/text/2009/17/M-Zusammen-Titel
 
Wer in der Sozialen Arbeit beschäftigt ist, erfährt die Auswirkungen einer solchen Vereinzelung täglich. Das wichtigste, was wir Menschen geben können, ist - Zeit!

Sonntag, 19. April 2009

Renaissance des Entfremdungsbegriffs?

Die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi beschreibt in einem Spiegel-Online-Interview    die Entfremdung als ein gesellschaftliches, strukturelles Problem:
 
"Nach meiner Theorie ist ein Mensch entfremdet, dessen Selbst- und Weltbezug gestört ist. Er fühlt sich fremd seinem eigenen Leben gegenüber, seinen Handlungen oder seinen Wünschen gegenüber, er ist beziehungslos gegenüber der sozialen, aber auch der dinglichen Welt, die ihn umgibt. Der entfremdete Mensch hat den Eindruck, dass nicht er selbst es ist, der autonom sein Leben steuert. Es geht also um eine eher formale Definition. Man sollte gar nicht erst danach fragen, wer man "wirklich ist", oder was man wirklich will in einer Art und Weise, die suggeriert, es gäbe da einen unhintergehbar "inneren Kern". Dennoch lassen sich in der Art und Weise, wie wir uns auf das, was wir tun, beziehen können, oder wie wir uns etwa in sozialen Rollen bewegen, und wie "anschlussfähig" und offen die Erfahrungen sind, die wir machen, Defizite erkennen. Entfremdung ist dann eine Störung von Aneignungsvollzügen."
 
In diese Entfremdungssituationen wird man nicht gezwungen, man schlittert oftmals biographisch "gewollt" in sie hinein:
 
"(...) Aber die Dinge haben eine Eigendynamik gewonnen, eines kommt zum anderen, und so schlittert er in diese neue Lebenssituation, die zugleich eigentümlich erstarrt ist: Ohne drastische Maßnahmen kommt er da nicht mehr raus. Nicht er lebt sein Leben, sondern das Leben lebt ihn. Für die Analyse solcher Erfahrungen eignet sich der Entfremdungsbegriff. Mir geht es dabei gerade nicht um die psychologische, sondern um die strukturelle Dimension dieses Geschehens."
 
Was aber ist dann ein nicht-entfremdetes Leben? Jaeggi füllt dieses Begriff nicht inhaltlich, als eine substantiell festgelegte Beschreibung eines Glückszustandes sondern umreißt mit ihm Grundstrukturen:
 
"Nicht entfremdet zu sein, bezeichnet eine bestimmte Weise des Vollzugs des eigenen Lebens. Es wäre ein Leben, in dem man selbstbestimmt seine Projekte verfolgt, die man sich dabei zu eigen macht und mit denen man sich identifizieren kann. Nicht-Entfremdung ist weder ein harmonisch-konfliktfreier Zustand noch ist es identisch mit dem, was manche Menschen als "Glück" bezeichnen, aber vielleicht ist es das Einzige, was wir über das gute Leben sagen können oder sollten. "
 
Anschlussfähigkeit und Aneignungsfähigkeit von gesellschaftlichen und materiellen Umständen sei die Voraussetzung für Nicht-Entfremdung, was somit nicht mehr (nur) dem Einzelnen obliegt sondern zu einer politischen Aufgabe wird.
 
Hierzu paßt der Gedanke, den Georg Simmel vor 100 Jahren notierte:
 
"Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren - die letzterreichte Umgestaltung des Kampfes mit der Natur, den der primitive Mensch um seine leibliche Existenz zu führen hat."
(aus: Die Großstädte und das Geistesleben)
 
 

Und ein weiterer von Heinz Abels über die Moderne:

"Die Moderne bereitet und Unbehagen, weil wir auf der einen Seite ermuntert werden, uns und unsere Individualität zu betonen und auszuleben, auf der anderen Seite aber spüren, dass wir nur mithalten können, wenn wir uns permanent nach Maßstäben richten, die die große Gesellschaft wie die kleinen, auch nicht mehr festen Gemeinschaften diktieren. Der Rahmen für die Autonomie des Individuums ist eng geworden." (Abels, Identität, S. 20)

Die Kunst des Reisens

"Erstens: Reisen ist eine bewusste Bewegung ins Unsichere. (...)
Zweitens: Reisen ist Befreiung durch Begegnung. Warum geht
man weg? Um zu sehen, wie andere Menschen und Völker
diesen Planeten bewohnen. Und um zu sehen, wie andere
Menschen, für die wir Fremde sind, uns wahrnehmen und
begegnen. (...)
Drittens: Reisen sind Geburtshelfer von Gedanken.(...)
 
Besonders schön finde ich die dritte These, die ein wenig an Kleist erinnert:
 
Über die Verfertigung der Gedanken beim Reden
 
"Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen. (...)"
 
 
Vielleicht könnte man gleiches behaupten über die "Verfertigung der Gedanken beim Wandern"!

Facebook-Nutzer haben schlechtere Noten

Ein Nachtrag zu den Überlegungen der Aberziehung von Kulturfähigkeiten: Spiegel online berichtet über eine quantitative Studie, die eine starke Nutzung von Online-Commuties in einen statistischen Zusammenhang mit schlechteren Uni-Noten bringt (http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,619583,00.html).
 
Natürlich ist bei dieser quantitativen Forschung höchste Vorsicht angesagt, da ja die Ursachenzusammenhänge weitestgehend im Dunkeln bleiben (wie der Bericht ja auch selbst einschränkend anführt).
 
Eine mögliche Erklärung weist jedoch Parallelen zu meinem Gedankenversuch auf:
 
"So fand die Oxforder Neurowissenschaftlerin Susan Greenfeld im Februar heraus, dass Personen, die viel Zeit in Online-Netzwerken verbringen, Probleme haben, sich über längere Zeit zu konzentrieren. Facebook und Co seien darauf angelegt, ihren Nutzern ständig kurze Erfolgserlebnisse zu bieten. User würden daher "wie kleine Kinder" eine schnelle Belohnung ihrer Anstrengungen erwarten."
 
Interessant wäre allerdings noch eine Längsschnittstudie der Absolventen unter Einbeziehung der Habitustheorie von Bourdieu, die neben kulturellem Kapital (das hier ja augenscheinlich vermindert wird) auch den Wert des sozialen Kapitals berücksichtigt (das ja möglicherweise im Gegenzug durch Facebook gefördert wird).
 
Haben die dümmeren nach dem Studium einfach die besseren Netzwerke oder wenigstens die höhere Kompetenz, sich kommunikativ auf irgendeinen Posten an den wissenderen durchzumogeln? Oder sind sie einfach glücklicher, weil sozial eingebettet (wäre ja auch schon was!).

Samstag, 18. April 2009

Religion macht krank

"Mein kleines Jerusalem" (http://www.arte.tv/de/2525662.html)  zeigt wieder einmal anschaulich, wie krankhaft Religion als solche ist.
 
Das kleine Jerusalem / Little Jerusalem ( La Petite Jérusalem ) [ Australische Fassung, Keine Deutsche Sprache ]
 
Sie erfüllt den gesellschaftlichen Zweck, dass sie Gewissheiten und Halt  bietet, und das gelingt nur, wenn sie ihre Zweckhaftigkeit leugnet, also absolute Geltungsansprüche stellt.
 
So klammern sich die Menschen an diese vermeintliche Gewissheit, pressen ihren kleinen Kopf so dicht an diesen scheinheiligen Retter, dass ihnen der Blick auf andere unmöglich wird. Schließlich können sie sich selbst nicht mehr sehen ebenso wie die gesamte Welt. Sie haben sich in die klebrige Masse der Religion hineingedrückt und werden von ihr nicht mehr losgelassen.
 
Religion trennt. Und anders als andere gesellschaftliche Gruppierungen tut sie dies so gesetzesartig und emotional besetzend, dass sie auf kurz oder lang Hass gebiert und zu Kriegen führt.
 
Religion ist zutiefst antidemokratisch und wird im Westen m.E. nur geduldet, weil das Christentum im Westen nur noch eine kastrierte Religion ist, eine Endmoräne des Mittelalters. Dort, wo sie mit testosteronprotzender Überzeugung auftaucht, wo z.B. das islamische Mittelalter mitten unter uns Platz greift, wird es deutlich: Freies, aufgeklärtes Denken in demokratischer Kultur ist Religion und vor allem Religionsgemeinschaften nicht nur zuwider sondern wesensfremd und existenzbedrohend.
 
Religion predigt - bestenfalls - Liebe und gebiert Hass, jedenfalls sobald sie in Gruppen gelebt wird.
 
Ich habe den Verdacht, dass ein kritischer Jude vor 2000 Jahren eine ähnliche Erkenntnis hatte und schleunigst von seinen Religionsbrüdern dafür ans Kreuz genagelt wurde. Als er sich nicht mehr wehren konnte, hat man aus ihm einfach einen Religionsstifter gemacht und die ganze Geschichte konnte in einer neuen Variante mit anderer Besetzung von Neuem beginnen. 
 
Vielleicht ist es ganz gut, dass es keinen Gott gibt, er müsste einfach zu viel menschlichen Irrsinn und Wahnsinn ertragen ...

Niemand kann aus seiner Haut

"Das zweite Leben des Monsieur Manesquier"( ), im Bayrischen Fernsehen irgendwann nachts aufgenommen. Vorgestern/gestern gesehen, in Etappen, immer mal zwischendurch. Ist eigentlich nicht gut, große Unsitte, manchmal sogar parallel zum Laptop.
 
Was ist so toll am Leben der anderen? Phänomen Torte - jeder will das Stück, das der andere hat, jedenfalls spätestens nach dem zweiten der eigenen Sorte?
 
Was ist mehr wert: Das Leben der Tat, das des Wortes, das Abenteuer, das behagliche zu Hause?
 
Im Grunde ist es wahrscheinlich gleichgültig. Das denkende Leben hat vielleicht den Vorteil einer angenehmen Breite und Beweglichkeit, einer möglichen Unabhängigkeit von Materiellem.
 
Vielleicht ist der entscheidende Punkt, dass man sich selbst zu dem jeweiligen Leben entscheidet (mutig sein) und es nicht langweilig wird.
 

Die Aberziehung von Kulturleistungen

Der Microbloggingdiensgt Twitter feiert in den USA ungeahnte Siegeszüge (http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/6/0,3672,7555686,00.html).

Mir scheint es, als ob der Erfolg dieser und manch anderer moderner Technik dem Verzicht auf die Erbringung bestimmter Kulturleistungen zu verdanken ist. Bei einer Nachricht von 140 Zeichen brauche ich weder eine besondere Konzentration noch eine bestimmte formale Ettikette, geschweige denn die Fähigkeit, einen längeren Text zu strukturieren und zu formulieren. Das Niveau der Äußerungen bewegt sich (und zwar notwendigerweise) auf der Stufe einer sprachlichen Alltagsäußerung innerhalb der Gesicht-zu-Gesicht-Kommunikation. Das kann JEDER. Auch der gewöhnliche US-Amerikaner, solange Sprache mit zu den anthropologischen Konstanten gerechnet werden darf.

Das Web2.0 schraubt sich somit auf die Fähigkeiten und das Niveau der bildungsmäßig betrachtet untersten Stufe zurück. Kommentare zu Fernsehsendungen beispielsweise müssen nicht mehr geschrieben werden, es genügt ein Video, dass jeder Trottel mit dem Handy aufnehmen und auf Youtube stellen kann. Handy ist ein gutes Stichwort in diesem Zusammenhang: Seine massenhafte Verbreitung ist vielleicht auch dem Umstand zu verdanken, dass auf Geschwätz nun niemand mehr verzichten muss, auch wenn er weit von seinem Mitschwätzer entfernt sein sollte.

Das ist ja im Grunde auch nicht problematisch, da wir alle Alltags-Schwätzer und somit in gewissem Grade auch Kulturignoranten sind. Nur: vormals waren wir wenigstens zu bestimmten formalen Anlässen gezwungen, uns höheren Kulturtechniken zu bedienen und diese einzuüben, im besten Falle sogar voranzutreiben. Diese Notwendigkeit hierzu geht uns durch die Absenkung der technischen Mitmachschwelle verloren, die eine Ausweitung schnoddrigen, bequemen Alltagsgewohnheiten in bisher unbekanntem Maße ermöglicht.

Der wirklich entscheidende Punkt ist aus meiner Sicht eine ungünstige Auswirkung dieser Technik auf das absolut zur Verfügung stehende Zeitbudged jedes einzelnen: Jeder hat nur 24 Stunden am Tag, regelmäßig wahrscheinlich eher 16 in wachem Zustand. Arbeit, Ausbildung oder Schule und die notwendigen Lebenserhaltungsverrichtungen abgezogen bleiben vielleicht noch 6 Stunden zur relativ freien Verfügung übrig. Und die sind jeden Tag nur ein einziges Mal gestaltbar. Wer twittert oder abboniertes Getwitter liest (was sich ja leicht zu Massen summieren soll), kann nicht gleichzeitig konzentriert ein Buch lesen oder einen Brief, entschuldigung - eine email schreiben - oder einfach zusammenhängend über ein Problem nachdenken (Die Besinnung auf ein "Singletasking" finde ich einen nachdenkenswerten Begriff im Bereich der Arbeitsorganisation). Wo eins ist, kann nicht gleichzeitig ein anderes sein. Vor lauter Faszination der Möglichkeiten erlauben wir eine Vermüllung unserer Zeitressourcen, wir werden zu Messies: Ein bißchen Sammmeln ist ok, wahlloses Horten ist krankhaft.

Wahl wird damit zu einer Zumutung, die uns vielleicht im Zeitalter des Briefes häufiger erspart geblieben ist. Eine Zumutung die gleichzeitig unumgehbar ist, wenn wir noch einigermaßen selbstbestimmt bleiben wollen. Das ist keine Lapalie, denn Fremdbestimmung ist nicht nur dem Freigeist unangenehm sondern bietet den Nährboden für eine Vielzahl von psychischen Erkrankungen und gesellschaftlichen Problemen. Es ist vielleicht sogar eine der Grundfragen menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Während uns diese Erkenntnis als relativ frischen Demokraten selbstverständlich erscheint, lassen wir uns durch die Hintertüre medial verführen und überrumpeln.