Sonntag, 19. April 2009

Renaissance des Entfremdungsbegriffs?

Die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi beschreibt in einem Spiegel-Online-Interview    die Entfremdung als ein gesellschaftliches, strukturelles Problem:
 
"Nach meiner Theorie ist ein Mensch entfremdet, dessen Selbst- und Weltbezug gestört ist. Er fühlt sich fremd seinem eigenen Leben gegenüber, seinen Handlungen oder seinen Wünschen gegenüber, er ist beziehungslos gegenüber der sozialen, aber auch der dinglichen Welt, die ihn umgibt. Der entfremdete Mensch hat den Eindruck, dass nicht er selbst es ist, der autonom sein Leben steuert. Es geht also um eine eher formale Definition. Man sollte gar nicht erst danach fragen, wer man "wirklich ist", oder was man wirklich will in einer Art und Weise, die suggeriert, es gäbe da einen unhintergehbar "inneren Kern". Dennoch lassen sich in der Art und Weise, wie wir uns auf das, was wir tun, beziehen können, oder wie wir uns etwa in sozialen Rollen bewegen, und wie "anschlussfähig" und offen die Erfahrungen sind, die wir machen, Defizite erkennen. Entfremdung ist dann eine Störung von Aneignungsvollzügen."
 
In diese Entfremdungssituationen wird man nicht gezwungen, man schlittert oftmals biographisch "gewollt" in sie hinein:
 
"(...) Aber die Dinge haben eine Eigendynamik gewonnen, eines kommt zum anderen, und so schlittert er in diese neue Lebenssituation, die zugleich eigentümlich erstarrt ist: Ohne drastische Maßnahmen kommt er da nicht mehr raus. Nicht er lebt sein Leben, sondern das Leben lebt ihn. Für die Analyse solcher Erfahrungen eignet sich der Entfremdungsbegriff. Mir geht es dabei gerade nicht um die psychologische, sondern um die strukturelle Dimension dieses Geschehens."
 
Was aber ist dann ein nicht-entfremdetes Leben? Jaeggi füllt dieses Begriff nicht inhaltlich, als eine substantiell festgelegte Beschreibung eines Glückszustandes sondern umreißt mit ihm Grundstrukturen:
 
"Nicht entfremdet zu sein, bezeichnet eine bestimmte Weise des Vollzugs des eigenen Lebens. Es wäre ein Leben, in dem man selbstbestimmt seine Projekte verfolgt, die man sich dabei zu eigen macht und mit denen man sich identifizieren kann. Nicht-Entfremdung ist weder ein harmonisch-konfliktfreier Zustand noch ist es identisch mit dem, was manche Menschen als "Glück" bezeichnen, aber vielleicht ist es das Einzige, was wir über das gute Leben sagen können oder sollten. "
 
Anschlussfähigkeit und Aneignungsfähigkeit von gesellschaftlichen und materiellen Umständen sei die Voraussetzung für Nicht-Entfremdung, was somit nicht mehr (nur) dem Einzelnen obliegt sondern zu einer politischen Aufgabe wird.
 
Hierzu paßt der Gedanke, den Georg Simmel vor 100 Jahren notierte:
 
"Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren - die letzterreichte Umgestaltung des Kampfes mit der Natur, den der primitive Mensch um seine leibliche Existenz zu führen hat."
(aus: Die Großstädte und das Geistesleben)
 
 

Und ein weiterer von Heinz Abels über die Moderne:

"Die Moderne bereitet und Unbehagen, weil wir auf der einen Seite ermuntert werden, uns und unsere Individualität zu betonen und auszuleben, auf der anderen Seite aber spüren, dass wir nur mithalten können, wenn wir uns permanent nach Maßstäben richten, die die große Gesellschaft wie die kleinen, auch nicht mehr festen Gemeinschaften diktieren. Der Rahmen für die Autonomie des Individuums ist eng geworden." (Abels, Identität, S. 20)

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