Mittwoch, 5. September 2007

Das Buch als Welt

Wissenssoziologie - das Lehrbuch begleitet mich jetzt seit Wochen, doch ich komme nur langsam voran. Es ist eine Vorbereitung auf eine empirische Forschungsarbeit, notwendig und interessant, aber gerade deshalb will ich es nicht nur überfliegen. Ich schreibe mir zentrale Gedanken auf Zettel, will es zu einer größeren Materialsammlung ausbauen. Strukturen sollen in Mindmaps festgehalten werden (ich schätze inzwischen FreeMind sehr).

Doch all dies geht in die Richtung Perfektionismus, nimmt die Leichtigkeit im Umgang mit dem Stoff und damit auch Lust und Kreativität. Ich zwinge mich, auch abschnittsweise vorzugehen, im Text zu arbeiten, anzustreichen, Kommentare an den Rand zu schreiben. Spielerischer Umgang mit der Materie ist allererste Voraussetzung erfolgreicher Arbeit. Wenn es gelingt, Struktur und Spiel miteinander zu vereinen, akkumuliert sich die Qualität exponential. Es sind fast Flow-Erlebnisse , wenn dieser Prozess in Gang kommt. Doch der Weg bis hierhin kann steinig sein.

Voraussetzung ist, dass man sich in den Stoff regelrecht verstricken läßt (ein wunderbarer Begriff aus dem Wortschatz John Deweys). Ein Arbeits- oder Lernobjekt ist eben im günstigen Fall kein Objekt mehr sondern verschränkt sich mit dem Subjekt, ich würde sogar sagen, wird Teil seiner Wirklichkeit - oder sogar ein eigenes Universum, sofern es das hergibt. Non scholae sed vitae discimus - stimmt aber auch nicht ganz, denn es ist kein Lernen für das Leben sondern ein Leben, das bereits im Lernen Leben ist und immer mehr Leben wird. Wie anders als über die Materie, mit der wir uns intensiv beschäftigen, sei es als Landwirt oder als Professor, erlangen wir Kenntnisse über unsere Welt, bauen wir unsere Welt, unsere Wirklichkeit erst auf?

In meiner Lernlaufbahn gab es keine Bücher, die ganz offen zur Grundlage einer Welterschließung durch Lektüre und Diskussion wurden, wie man es von Sartres "Sein und Nichts" oder von Adorno/Horkheimer "Die Dialektik der Aufklärung" hört. Vermittelt über die Lektüre eine Zeit lang mit dem Buch und mit anderen in einer (neuen) Welt leben, das hört sich verlockend an, das gibt Büchern eine Aura, die schon fast religiös ist.

Das religiöse Element hat möglicherweise damit zu tun, dass es bei dem Gedankenuniversum eines Buches ebenso wie in der geschlossenen Welt einer Religion einen festen Lebensrahmen gibt, eine begrenzte, eingerahmte Wirklichkeit, eine handhabbare Perspektive, die das Chaos - jedenfalls bis zum ersten grundlegenden Zweifel - für eine Zeit lang lebbar und zusammenhängend, also sinnvoll macht. Wahrscheinlich ist es diese Sehnsucht nach Sinn, Zusammenhang und Handhabbarkeit, der hinter dem Wunsch nach einem "Kultbuch" steht.

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